Basteln sich progressive Christen ihren eigenen Glauben?

Immer wieder bekomme ich den Vorwurf zu hören, dass progressive Christen sich ihren eigenen Glauben zusammenbasteln. Schon im Titel meines Buches »Wenn der Glaube nicht mehr passt« steckt angeblich dieser Denkfehler. Was nicht passt, wird passend gemacht! All das, was Progressiven oder Postevangelikalen im Glauben nicht passt, ändern sie ab und schneidern sich ihren eigenen Glauben zurecht.
Und ich möchte gar nicht bestreiten, dass das eine Gefahr ist. Aber dieser Vorwurf impliziert den Gedanken, dass evangelikaler Glaube – oder der Glauben, den man schon immer hat, seit der Bekehrung hat oder genau den Vorstellungen der eigenen Gemeindetradition entspricht – einfach so vom Himmel gefallen wäre. Auch evangelikaler Glaube ist maßgeschneiderter Glaube! Niemand hat einen vollkommen ursprünglichen, unbearbeiteten Glauben. Evangelikale haben einen ebenso maßgeschneiderten Glauben wie Progressive.
Die Schneidermeister waren die Kirchenväter, die Reformatoren, die Mütter und Väter des Pietismus, die Theologen der eigenen Gemeindebewegung, ja sogar die Bibelübersetzer.
Und der verwegenste Schneider ist das eigene Bibelverständnis! Darum finde ich diesen Vorwurf so lächerlich. Wenn evangelikaler Glaube so ursprünglich, so roh, so unbearbeitet, so zutiefst biblisch wäre, warum gibt es dann so viele Glaubensunterschiede zwischen den evangelikalen Denominationen? Warum unterscheidet sich der Glaube der Pfingstler, der Brüdergemeinden, der Baptisten, der Methodisten, der FEGs, der Vineyard Gemeinden und vieler anderer in ganz wesentlichen Punkten? Da viele dieser Gemeindeverbände durch eine Abspaltung aus einem anderen Gemeindeverband entstanden sind (auch wenn das schon Jahrzehnte oder Jahrhunderte her ist), müssen sich alle den Vorwurf gefallen lassen, sich mit dieser Abspaltung den eigenen Glauben neu zusammengestellt und zurechtgeschneidert zu haben. Was an Glaubensvorstellungen nicht mehr gepasst hat, wurde weggeschnitten und dafür neue Erkenntnisse und Glaubenspraxis angenäht.
Die Tragödie ist, dass die lange Dauer dieser neuen Glaubensvorstellungen – und damit die Tradition – die verblendende Wirkung hat, man sei im Besitz eines ursprünglichen, biblischen und keinesfalls maßgeschneiderten Glaubens. Maßgeschneidert ist ja immer nur der Glaube der anderen. Und weil progressiver Glaube die jüngste Form dieser Glaubensentwicklung darstellt, trifft ihn der Vorwurf am heftigsten. Es darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der noch so konservative Glaube auch irgendwann maßgeschneidert wurde. Oftmals lässt aber der Staub der Jahrhunderte die Nähte nicht mehr erkennen. Also lasst uns doch wenigstens so ehrlich sein und zugeben, dass wir alle an unserem Glauben herumschneidern. Bloß weil es bei einigen schon länger her ist, verzaubert das ihren maßgeschneiderten Glauben nicht in den Ursprünglichen.
Ein zweiter Vorwurf bekomme ich auch immer wieder zu hören: Progressive seien damit beschäftigt, alles Unangenehme, Schwierige oder Anstrengende im Glauben auszusortieren. Glaube soll in dem Sinne wieder passen, dass er unproblematisch, unanstößig, zeitgemäß ist und mich möglichst wenig infrage stellt. Progressiver Glaube ist demnach weichgespülter Glaube. Für die Kritiker sollte Glaube gerade nie wirklich passen, sondern immer eine Herausforderung an uns sein. Eigentlich sollten wir ständig gegen uns glauben.
Dahinter steckt zum einen ein ganz negatives Menschenbild, das Menschen grundsätzlich nicht über den Weg traut. Hier wird ein sehr einseitiger Narrativ gepflegt, dessen fatale Auswirkungen die Geschichte immer wieder belegt hat.
Aber progressive Christen wollen überhaupt keinen bequemen und weichgespülten Glauben. Sie wollen gar keinen Glauben, der sie ständig bestätigt, bauchpinselt und ihnen zuspricht: alles ist in Ordnung und vor allem du bist in Ordnung. Sie wollen in vielem den Glauben wider schärfen und stärken.
Progressive Christen haben wahrgenommen, dass die klassisch evangelikale Definition und Auflistung von Sünden entschieden zu kurz greift. Sie entdecken neue Ungerechtigkeiten, neue Missstände und neue Sünden, von denen wir uns persönlich abwenden müssen und um deren Veränderung wir uns bemühen sollten. Es ist eine Fehlinterpretation, dass progressive Christen Sünde nicht mehr ernst nehmen. Sie nehmen nur die Lieblingssünden manch konservativer Kreise nicht mehr so ernst. Sie wollen nicht länger Mücken seihen und Kamele verschlucken! Sie wollen endlich die Sünde des Verurteilens überwinden und das auch auf Andersgläubige und queere Menschen ausdehnen. Sie wollen die ungeheuren ökologischen Sünden in den Blick nehmen, die unsere Menschheit deutlich mehr bedrohen als Selbstbefriedigung oder Harry Potter zu lesen. Sie wollen die menschenverachtenden ökonomischen Sünden in den Blick nehmen, was die Veränderung unseres Einkaufsverhaltens, unsere barmherzige Haltung zu Flüchtlingen und unsere Unterstützung der Witwen und Waisen in der Dritten Welt bedingt.
Sie wollen die Sünde der Diskriminierung Frauen gegenüber überwinden und sich für ihren Platz, ihre Rechte, ihre Anerkennung, ihre Sprache und ihre Gleichberechtigung in Kirche und Gesellschaft einsetzen.
Sie haben entdeckt, dass es nicht nur um einzelnen Tatsünden der Menschen und insbesondere der Christen geht, sondern um systemische Sünden, die immer und immer wieder neue Ungerechtigkeiten hervorbringen. Sie haben wahrgenommen, dass Umkehr (Metanoia) nicht einfach bedeutet, dass einzelne Unkrautpflänzchen abzuschneiden, sondern die Wurzel auszureisen.
Progressive Christen sind in ihrem Kampf gegen die Sünde von der Liebe motiviert und nicht von den Geboten. Wer ein Ernstnehmen der Sünde nur in der Verwirklichung biblischer und besonders alttestamentlicher Gebote erkennen kann, hat die eigentliche Idee der Botschaft Jesu, des Reiches Gottes und der goldenen Regel vielleicht nicht wirklich verstanden.
Progressive Christen wollen es sich keinesfalls einfach machen. Sie sind vielmehr eine ganz wichtige Stimme, um die Abgründe der menschlichen Natur, der Gesellschaft und des Kosmos neu in den Blick zu bekommen, die in manch konservativen Kreisen vor lauter Aussortieren der Mücken in ihrer moralischen Suppe aus dem Blick geraten sind.