Der Strohmann

Mein aktuelles Buch »Wenn der Glaube nicht mehr passt – ein Umzugshelfer« erfährt gerade viel Aufmerksamkeit in den sozialen Medien, in verschiedenen Podcasts oder Blogs. Die konservative Szene hat sich aufgemacht mein Buch und seine Argumente gründlich zu durchleuchten und zu widerlegen.

Besonders mein Bibelverständnis ist ihnen ein Dorn im Auge und es vergeht kaum eine Woche, in der nicht eine neue Rezension verfasst wird, die die Gefährlichkeit meines Bibelverständnisses aufzeigen soll.

Der einhellige Vorwurf lautet: ich arbeite mit einem Strohmann-Szenario. Soll heissen: Ich beschreibe ein konservatives Bibelverständnis, bei dem anscheinend alles in der Bibel wörtlich genommen wird, das es aber so in der konservativen Szene gar nicht gibt. An diesem Strohmann arbeite ich mich in meinem Buch nun ab, um die Absurdität des konservativen Bibelverständnisses aufzuzeigen.

Ja, ich beschreibe ein absurdes Bibelverständnis: Das Verbot eine Geschiedene zu heiraten wird wörtlich genommen, das Verstümmelungsgebot nur ein paar Verse zuvor allerdings nicht. Und so bringe ich noch manch anderes Beispiel.

Und meine Kritiker haben völlig recht: bis auf wenige Ausnahmen findet man solch ein enges, wörtliches Bibelverständnis kaum in der evangelikalen Szene. Es wäre auch absurd und in keinster Weise lebbar. Aber damit bestätigen sie ja haargenau den Kernpunkt meiner ganzen Hermeneutik: weil niemand die ganze Bibel und jeden Vers wörtlich nimmt, verwenden alle Kriterien, um zu entscheiden, wie man mit den einzelnen Texten, Geschichten und Versen nun umzugehen hat.

Wenn unsere konservativen Brüder und Schwestern zu Recht nicht alles in der Bibel wörtlich nehmen, treffen sie andauernd Entscheidungen, wie sie mit dem biblischen Text umgehen, sie wenden Kriterien an, hermeneutische, exegetische und textkritische Überlegungen, um dem Text gerecht zu werden.

Aber genau hier liegt das Problem. Die konservative Szene beharrt nun darauf, dass ihre Entscheidungskriterien wie Bibeltexte zu verstehen sind die einzig Richtigen sind. Genauso wie ihre Entscheidungen was nach wie vor gültig ist und was nicht, was wörtlich genommen werden soll und was nicht, was zeitbedingt ist und was nicht.

Natürlich nimmt niemand die gesamte Bibel wörtlich. Aber leider passiert es der konservativen Szene immer und immer wieder die Inspiration der Bibel mit der Inspiration ihrer eigenen Auslegung zu verwechseln.

Ja, die Bibel ist Gottes Wort, Gottes inspiriertes Wort. Unsere Auslegung der Bibel, unser Verständnis der Bibel ist es aber nicht!

Unser Erkennen ist Stückwerk, wir alle tragen eine Brille der Vorurteile, wir alle sind Kinder unserer Zeit. Da sind Progressive und Konservative keine Ausnahme.

Es wird doch nicht besser, wenn man zwar nicht alles in der Bibel wörtlich nimmt, aber am Ende doch die Deutungshoheit für sich in Anspruch nimmt! Dieser Machtmissbrauch der Bibel gegenüber wird in vielen konservativen Kreisen gar nicht mehr wahrgenommen. Die Anmaßung, über die Deutungshoheit der Schrift zu verfügen wird gar nicht erkannt, weil man von der Richtigkeit dieser Deutungen sowas von überzeugt ist. Und wer sich im Besitz der Wahrheit wähnt, der scheint alles Recht auf seiner Seite zu haben.

Konservative wollen für alle Christen festlegen, was eine biblische Hermeneutik ist. Und sie wollen zudem für alle festlegen, welche Themen der Bibel für alle Menschen zu allen Zeiten verbindlich sind und über welche Themen man gegebenenfalls diskutieren und zu unterschiedlichen Meinungen kommen darf.

Immer wieder wird von konservativer Seite auf das Apostolische Glaubensbekenntnis verwiesen, das uns die großen Themen vor Augen malt und das uns nicht verloren gehen darf. Aber genau in diesem so wichtigen Glaubensbekenntnis steht kein Wort über Sexualität, wird das, was am Kreuz geschehen ist gerade nicht gedeutet, wird die Errettung aus Gnade mit keinem Wort ausgeführt, wird nicht die Bibel und auch kein Inspirationsverständnis erwähnt und auch die Hölle kommt im Glaubensbekenntnis nicht vor.
Und doch wird progressiven Christen vorgeworfen sich an den ganz zentralen Themen des Glaubens zu vergehen, wenn sie über die Inspiration oder die Hölle anders nachdenken, mehr als nur eine Deutungsmöglichkeit des Kreuzes sehen, verschiedene Gesichter des Evangeliums erkennen oder Sexualität ins Gespräch mit Kultur, Psychologie oder Medizin bringen.

Ich bleibe dabei: es gibt keine objektive Bibeltreue! Es gibt nur subjektive Bibeltreue. Konservative sind der Bibel nicht treuer als Progressive! Sie haben ihre Deutung und Auslegung der Bibel nur so sehr mit der Bibel selbst gleichgesetzt, dass sie tatsächlich der Täuschung auf den Leim gegangen sind, wahrhaft objektiv bibeltreu zu sein.