Postevangelikale müssen nicht unter dem Radar des Heiligen Geistes fliegen

Ich bin davon überzeugt, dass ein gesunder und funktionierender Glaube zwei Standbeine braucht: Intellektualität und Spiritualität. Ich möchte den Glauben intellektuell, mit meinem Verstand erfassen. Ich möchte ehrlich glauben, begründen warum ich etwas glaube, Glaube durchdenken und auch weiterentwickeln. Ich möchte Glauben dekonstruieren und rekonstruieren. Auf meiner langjährigen Glaubensreise habe ich mich von evangelikal zu postevangelikal entwickelt. Diese Entwicklung ist eine Folge von neuen Einsichten, neuen Erkenntnissen, einer neuen Bibelhaltung und dem Ablegen von manch altem Verständnis oder krankmachenden Systemen.

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Auf der anderen Seite braucht mein Glaube auch Gotteserfahrungen. Er braucht nicht nur Transformation meines Denkens, sondern auch die Transzendenz des Heiligen Geistes. Mein Glaube braucht Kraft, er verlangt nach einer leidenschaftlichen Spiritualität. Ich brauche Denkprozesse und Herzensprozesse. Der Heilige Geist möchte sowohl meinen Verstand erleuchten, als auch mein Herz formen.

Jesus hat einmal zu den Pharisäern gesagt: »Ihr irrt euch, weil ihr weder die Schrift noch die Kraft Gottes kennt.« (Matthäus 22,29 NGÜ). Hier redet Jesus von diesen beiden Standbeinen. Die Schrift kennen ist der Aspekt des Verstandes, unser Wissen und Verstehen. Die Kraft Gottes kennen ist der Aspekt des Geistes, des Herzens, der persönlichen Spiritualität und der Gotteserfahrungen. Wenn wir nicht beides haben, droht sich unser Glaube zu verirren. Drei Jahre lang hat Jesus das Denken und Verstehen der Jünger herausgefordert durch all seine Reden, Gleichnisse und Predigten. So manches hat er dekonstruiert und Neues konstruiert: „Ihr habt gehört, ich aber sage euch…“.
Und drei Jahre lang hat Jesus den Jüngern die Kraft und die Wirksamkeit des Reiches Gottes gezeigt. Sie durften Gotteserfahrungen machen und ihre Herzen wurden verwandelt. Jesus machte überdeutlich, dass Glaube und Nachfolge, Mission und Gemeindebau nicht funktionieren, ohne diese Kraft des Heiligen Geistes. Kurz vor seiner Himmelfahrt saget Jesus: „Wartet bis die Zusage des Vaters in Erfüllung geht, die ihr von mir vernommen habt:  ‚Johannes hat mit Wasser getauft, aber ihr werdet schon bald – in ein paar Ta

gen – mit dem Heiligen Geist getauft werden.‘“  (Apg.1,4f NeÜ)

Im Lukasevangelium wird es so beschrieben: „Und nun werde ich euch den Heiligen Geist senden, wie mein Vater es versprochen hat. Ihr aber bleibt hier in der Stadt, bis der Heilige Geist kommen und euch mit Kraft aus dem Himmel erfüllen wird.“ (Luk.24,49  NL)

Die Jünger sollten warten und bleiben, bis Jesus im Geist zu ihnen zurückkommen würde. Denn ohne mich, sagte er, könnt ihr nichts tun. Das war nicht optional gemeint. An Pfingsten erleben die Jünger nun diesen Heiligen Geist und ab jetzt ist ihnen klar, dass sie diesen Glauben bei allen Menschen auf diese beiden Standbeine stellen müssen: Jesu Botschaft verkündigen und die Menschen mit dem Heiligen Geist bekannt machen. Und genauso ist es dann in der Apostelgeschichte weitergegangen. Wo immer die Apostel hingekommen sind, haben sie sichergestellt, dass die Menschen den Heiligen Geist empfangen:

Urgemeinde nach der ersten Verfolgungswelle

Apg.4,31: … Als sie so gebetet hatten, bebte die Erde an dem Ort, wo sie versammelt waren. Sie alle wurden mit dem Heiligen Geist erfüllt und verkündigten die Botschaft Gottes mutig und frei.

Samaria

Einige Zeit nach Pfingsten kamen Menschen in Samaria durch Philippus zum Glauben. Und sofort reisen die Apostel dorthin, um sicherzustellen, dass alle neuen Christen den Heiligen Geist empfangen.

Apg.8,14ff: … Nach ihrer Ankunft beteten beide für sie, dass Gott ihnen den Heiligen Geist geben möge. … Nach dem Gebet legten Petrus und Johannes ihnen die Hände auf, und jetzt empfingen sie den Heiligen Geist. (NeÜ)

Cornelius

Als einige Zeit später Petrus einer heidnischen Familie das Evangelium verkündigt, geschieht die Erfüllung mit dem Heiligen Geist sogar ganz ohne sein Zutun, einfach aufgrund der Initiative Gottes.

Apg.10,44ff Petrus hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da kam der Heilige Geist auf alle herab, die bei Kornelius versammelt waren und die Botschaft hörten. … Da wandte sich Petrus an seine Begleiter: »Wer könnte ihnen jetzt noch die Taufe verweigern, wo sie genau wie wir den Heiligen Geist empfangen haben?«

Paulus

Bei Paulus spielt sich dasselbe ab. Jesus ihm Saulus vor den Toren von Damaskus. Gleichzeitig beauftragt Jesus Hananias, zu Saulus zu gehen und für ihn zu beten.

Apg. 9,17: … Er legte ihm die Hände auf und sagte: »Saul, Bruder, der Herr, der dir auf dem Weg erschienen ist, Jesus, der hat mich zu dir gesandt, damit du wieder sehen kannst und mit dem Heiligen Geist erfüllt wirst.« (NL)

Ephesus

Einige Jahre später reiste dieser Paulus nach Ephesus und traf dort auf Jünger, die frisch zum Glauben gefunden hatten. Und seine erste Frage war die Frage nach dem Heiligen Geist:

Apg.19,1ff:  … Er traf dort einige Jünger und fragte sie: »Habt ihr den Heiligen Geist empfangen, als ihr zum Glauben gekommen seid?« Sie antworteten: »Nein. Wir haben noch nicht einmal gehört, dass es so etwas wie einen Heiligen Geist gibt.« … Dann legte Paulus ihnen die Hände auf und der Heilige Geist kam auf sie herab. Sie redeten in unbekannten Sprachen und mit prophetischen Worten. (GNB)

 

Wenn ich meine Sehnsucht und Hoffnung für die Zukunft in einem Satz formuliere, dann ist es: Ich will progressiv glauben UND geisterfüllt leben. Ein Glaube der sich weiterentwickelt, der die Fragen, Brüche und Zweifel in den Glauben integriert – und gleichzeitig Gotteserfahrungen macht und erfüllt ist mit dem Geist und der Kraft Gottes. Ich finde das eine ungeheuer relevante, ja prophetische Kombination.

 

 

An vielen Orten ist es eher ein entweder oder: Da gibt es Menschen, die lieben den Heiligen Geist, sie lieben die Geistesgaben, sie sehnen sich nach dem Übernatürlichen, sie rechnen mit Gottes Reden, sie beten für die Kranken. Aber es scheint, dass sie dabei einen unerwünschten theologischen Rucksack tragen müssen. In der Sehnsucht nach der Kraft des Geistes akzeptiert man schließlich eine ausgeprägte Schwarz-Weiß-Theologie. Man akzeptiert eine flache und platte Glaubenslehre, man gibt sich mit den einfachsten Antworten zufrieden, man übernimmt ein fundamentalistisches Bibelverständnis, wagt nicht mehr zu zweifeln oder zu hinterfragen. Man hat zwar eine geisterfüllte Spiritualität, aber oft eine flache und ungesunde Theologie.

Oder es läuft genau andersrum: Der Glaube hat sich weiterentwickelt, ist vorangeschritten, er ist progressiv geworden. Man entwickelt ein neues Bibelverständnis, man entdeckt die soziale und politische Dimension der Botschaft Jesu. Das Evangelium wird breiter, die Sicht auf die Welt und das Kreuz differenzierter. Man entwickelt eine Moral und eine Ethik, die nicht am Buchstaben der Schrift klebt, sondern den Geist der Texte erfasst und anwendbar macht auf heutige Herausforderungen. Und gleichzeitig geht mit dieser progressiven Entwicklung eine gewisse Kindlichkeit des Glaubens verloren. Plötzlich fällt es schwer sich auf das Übernatürliche einzulassen oder an das Wundersame zu glauben. Plötzlich gibt es gar keine einfachen Lösungen mehr und die prophetische Dimension des Glaubens geht verloren. Aus dem Zulassen von Fragen wird am Ende ein chronisches Hinterfragen von Allem. Irgendwie rückt Gott in die Ferne. Er ist Gegenstand meines Denkens, aber nicht meines Erlebens. Man hat zwar eine gewisse kognitive Dissonanz überwunden, aber eine innere Kraftlosigkeit geerbt. Man hat nicht zu einem geisterfüllten Leben, zu einer kraftvollen persönlichen Spiritualität zurückgefunden. Entweder man will geisterfüllt leben und muss deswegen außerordentlich konservativ glauben oder man will progressiv glauben und muss sich deswegen von einem geisterfüllten Lebensstil verabschieden.

Ich glaube das geht anders, ich glaube das geht besser. Es braucht Christen und Kirchen, die progressiv glauben, die tatsächlich das krankmachende, eindimensionale und flache des Glaubens hinter sich lassen, die aber gleichzeitig geisterfüllt leben, mit der Kraft des Geistes rechnen und keinesfalls auf die lebensnotwendigen Gotteserfahrungen verzichten wollen. Ich kann nicht zurück zu dieser alten Charismatik, die ich von früher kenne, das geht nicht mehr! Da triggert mich zu vieles. Aber ich möchte zurückfinden zu einer neuen, einer zweiten Naivität. Ich möchte die spirituellen und mystischen Aspekte dieses Glaubens wiederentdecken. Entgegen der Unkenrufe vieler besorgter Kritiker ist die progressive Weiterentwicklung des Glaubens nicht der schleichende Weg in Richtung Atheismus.  Es ist vielmehr das Abwerfen von Ballast, was uns befähigt, unseren Glauben in ganz neue Höhen zu führen.  Progressiver Glaube muss nicht unter dem Radar des Heiligen Geistes fliegen!  Er muss sich nicht verstecken, als wäre er etwas Unheiliges, Ungehöriges oder Lästerliches, mit dem der Heilige Geist nichts zu tun haben möchte.  Man wird nicht unrein oder unberührbar, wenn man postevangelkal ist. Im Gegenteil: ich entdecke in den Fragen, in den Überlegungen, in den Zweifeln und in den neuen Ansätzen vieler postevangelikaler Christen gerade das Wirken und das Reden des Heiligen Geistes. Postevangelikale Christen haben sich nicht aus dem Einflussbereich Gottes herausbewegt, sondern sind meiner Meinung nach im Zentrum wichtiger Entwicklungen, die sich gerade im Reich Gottes vollziehen.  Und darum dürfen auch progressive Christen für sich den Heiligen Geist, seine Kraft, seine Inspiration, seinen Segen, seine Führung und seinen Beistand in Anspruch nehmen. Gott ist mit uns! Er möchte uns für unsere aktuelle Glaubensreise seinen Geist schenken. Sein Geist möchte uns auch in Zukunft in alle Wahrheit leiten! Er möchte unser Denken beflügeln und gleichzeitig unsere Herzen zum Blühen bringen. Ich sehne mich nach Erleuchtung und Bevollmächtigung. Nach intellektuellen Aha-Momenten und Gotteserfahrungen.

Und natürlich will so mancher Leser nun wissen, wie man diese Erfüllung mit dem Heiligen Geist erleben kann. Aber ich will eben gerade nicht wieder „4 Schritte zu einem geisterfüllten Leben“ raushauen. Genau das wären ja wieder dieser einfachen Rezepte, diese Kasuistik, zu denen wir als postcharismatische Christen nicht zurückkehren wollen. Wahrscheinlich müssen wir ganz neu über den heiligen Geist und geisterfülltes Leben nachdenken. Neue Fragen stellen. Neue Entdeckungen machen. Neu mutig werden! Ich weiß nicht, welche Schritte es dabei für dich bräuchte. Ich weiß nicht, was dich bei diesem Thema triggert oder dir den Weg verstellt. Aber ich kann dir versichern: der Schritt nach vorn in ein geisterfülltes Leben muß keine Rolle rückwärts in einen krankmachenden oder manipulativen Glauben sein. Ich jedenfalls möchte nicht auf die Inspiration des Geistes verzichten, während ich dabei bin mit meinem Glauben umzuziehen. Ich möchte das vielmehr tun in enger Verbindung mit dem Heiligen Geist und ich möchte seine Kraft in und durch mein Leben erfahren! Willkommen auf dieser Reise!