Progressive Zukunftsperspektiven
Der Widerstand formiert sich! Die progressive Bewegung mit all ihren Büchern, Konferenzen, Podcasts und prominenten Vertretern ist nicht mehr zu übersehen im deutschsprachigen Raum. Und darum regt sich auch der Widerstand. So wie die progressive Bewegung an Fahrt gewinnt, mobilisieren auch die Konservativen ihre Kräfte. Man verbindet schlimme Befürchtungen mit diesem progressiven Glauben und der dahinterstehenden Theologie. Auch apologetische und konservative Podcasts schießen aus dem Boden, neue Netzwerke werden gegründet und Bekenntnisse formuliert. Ein klares Indiz: wir werden ernst genommen!
Die Zeit arbeitet für uns

Ich bleibe dabei gelassen, denn die Zeit arbeitet für uns! Ich erlebe, dass die Zahl der Menschen, die progressive Fragen stellen immer größer wird. Das ist nicht mehr aufzuhalten. Es ist zu viel Druck im Kessel. Es ist nicht länger ein Randphänomen, sondern mehr und mehr Christen aus allen Generationen fangen an tiefe Fragen zu stellen, über ihren Zweifel zu sprechen, ihrem Unwohlsein bei manchen Überzeugungen Luft zu machen und die fehlende Relevanz ihres Glaubens zu beklagen. Die konservative Bewegung hat es zu lange verpasst gute Antworten auf brennende Fragen zu liefern. Leider werden bis heute von vielen Pastoren, Theologen und Gemeinden genau diese Anfragen tabuisiert. Wer seine Anfragen ans Bibelverständnis, an moralische Überzeugungen, an eine bestimmte Eschatologie, an ein bestimmtes Missionsverständnis oder ans Erlösungsverständnis offen ausspricht oder seine Irritationen diesbezüglich äußert, wird ganz oft mit Schuldgefühlen überschüttet oder erlebt die Scham, die solch eine Offenheit mit sich bringt. Und wenn nicht tabuisiert wird, wird banalisiert. Die Fragen seien doch nicht so wichtig, lass dich nicht ablenken, bleib bei deinen alten Überzeugungen, das sind doch alles nur Randthemen. Aber längst haben diese verunsicherten Christen wahrgenommen, dass für sie diese Fragen existenziell und schon lange nicht mehr banal sind. Und wenn nicht banalisiert wird, wird moralisiert. Mit solchen Anfragen schadet man der Gemeinschaft, verlässt man die gesunde Lehre, ist man Gott ungehorsam, gibt dem Lügengeist Raum und steht man in der akuten Gefahr das Heil zu verlieren.
Gerade neulich hörte ich einen Podcast in dem eine bekannte konservative Influenzerin progressiven Christen ihre Beziehung zu Jesus absprach, sie als vom Satan verführt bezeichnete und sich dafür aussprach, mit diesen Menschen keinen Umgang zu pflegen. Statt offen ins Gespräch zu kommen werden die alten Antworten moralisch aufgeladen um mit den entsprechenden Warnhinweisen versehen. Das führt am Ende zu einer toxischen Gesprächsatmosphäre. Dem möchten sich mehr und mehr Christen nicht mehr aussetzen.
Zu lange haben konservative Theologen ein Bibelverständnis propagiert, das Menschen erdrückt, das kaum Entwicklung zulässt und zu immer größeren Verwerfungen zwischen dem führt, was man glauben soll und wo einen das eigene Leben hingetragen hat. All das rächt sich nun gewaltig. Menschen aus allen Generationen brechen aus, geben sich mit den bisherigen Antworten und Überzeugungen nicht länger zufrieden. Es ist gerade kein Zeichen eines liberalen gewordenen Glaubens, der hier ausbrechen möchte, sondern diesen Menschen ist ihr Glaube zu kostbar, um ihn noch länger der Irrelevanz und Kraftlosigkeit preiszugeben. Sie sehnen sich nach einem Glauben, der wieder passt, der ihr Leben wirklich trägt, von dem sie überzeugt sind, von dem sie schwärmen können und der Energie freisetzt. Glaube wurde für sie über die Jahre zu sehr zum philosophischen Denkmodell und sie wünschen sich Überzeugungen, die sie wirklich wieder glauben können.
Reflexe statt Reflexion
Konservativer Glaube hat viele Stärken, vieles an ihm ist kostbar, tragfähig und verbindet uns mit einer langen Tradition an Überzeugungen von Christen über die Jahrhunderte hinweg. Aber er hat auch große Schwächen. Progressive Christen sehen darin eine Chance. Sie möchten über diese Schwächen reden, sie möchten eine Gesprächskultur, bei der wir miteinander neue Wege entdecken, uns auf die Stärken konzentrieren und in manchem tatsächlich umdenken und umglauben. Ich erlebe immer wieder, dass dort, wo nicht reflektiert werden darf, nur Reflexe bleiben. Diese Reflexe werden aktuell sehr deutlich. An zu vielen konservativen Orten werden die Progressiven einfach zum neuen Feindbild, statt sich den Schwächen des Systems und den Anfragen der Christen zu stellen. Aber auch hier: die Zeit arbeitet für uns. Ich prognostizierte, dass uns die progressiven Fragen die nächsten Jahrzehnte beschäftigen werden. Gemeinde um Gemeinde wird wahrnehmen, dass sie bestimmte Themen nicht länger tabuisieren kann. Die eine Gemeinde wird sich nächste Woche mit diesen Fragen beschäftigen, andere in einem Jahr und wieder andere in zehn Jahren.

Progressive verstehen ihren Glauben nicht als Standpunkt, sondern als Reise. Wir sind in Bewegung. Wir sind Kinder des Weges. Wir bewegen uns auf heikle Fragen zu, wir suchen, wie ringen und wir machen Entdeckungen. Unser Halt ist die Unveränderlichkeit und Treue Gottes und nicht die Unbeweglichkeit unserer Überzeugungen.
Warum durften denn nur die Christen und Theologen in den ersten sechs Jahrhunderten die großen theologischen Themen und Glaubensfragen wälzen, miteinander diskutieren und miteinander Ergebnisse festhalten? Warum müssen wir seither unbeweglich an diesen Überzeugungen und Deutungen festhalten? Warum dürfen wir keine eigene Lerngemeinschaft des 21. Jahrhunderts sein? Die scheinbare Offenheit der Konservativen beschränkt sich meistens auf periphere Themen des Glaubens, aber wehe jemand tastet Themen wie das Kreuz, die Erlösung, die Hölle, das Gottesbild oder das Inspirationsverständnis an. Diese Themen werden sofort mit dem Hinweis versehen, dass wir darüber nicht diskutieren dürfen, denn sie stellen das absolute Fundament des Glaubens dar, an dem nicht gerüttelt werden darf. Warum ist immer sofort die Angst da, dass jedes neue Nachdenken über Kernthemen des Glaubens unweigerlich zur Irrlehre führt? Haben nicht die Reformatoren im 16. Jahrhundert über genau diese fundamentalen Kernthemen wie Erlösung, Kreuz, Gnade, Gericht, Gesetz und Werke ganz neu nachgedacht und dabei neue Entdeckungen gemacht, die zum Schatz aller Christen wurden. Es sind gerade keine Irrlehren entstanden, sondern es konnten bis dahin unerkannte und verborgene Wahrheiten ans Licht treten. Nun möchte ich keinesfalls progressive Theologie mit reformatorischer Theologie gleichsetzen. Die spielt in einer ganz anderen Liga. Aber es geht mir ums Prinzip. Auch heute muß ein erneutes Reflektieren der Kernthemen nicht zwangsläufig in die Irre führen, sondern kann uns helfen unseren Blick wieder zu schärfen und so manches Thema von seiner kulturellen oder denominationellen Überfremdung zu befreien.
Verantwortung und Aufgaben
All das verleiht uns Progressiven eine besondere Verantwortung. Um den düsteren Prognosen der Kritiker nicht gerecht zu werden und progressiven Glauben wirklich gesund und hilfreich weiterzuentwickeln, halte ich folgende Aufgaben für die Zukunft progressiver Theologie für unerlässlich:
- Wir bleiben respektvoll und liebevoll trotz aller Betroffenheit und vielleicht auch Verletzungen.
Ich möchte nicht verurteilend sein, ich möchte nicht ausgrenzen, ich möchte offen bleiben, gesprächsbereit, einladend, verständnisvoll, respektvoll und wertschätzend dem gegenüber, was andere bewegt und worin sie sich auch von mir unterscheiden. Ich möchte lieber Brücken bauen als Brücken abbrennen. Ich möchte mich nicht an Hetze und Hasskommentaren beteiligen. Ich möchte anderen nicht den Glauben absprechen, sondern sie schätzen als meine Brüder und Schwestern. Ich ehre die Vergangenheit, ich weiß woher ich komme und wo das konservative Erbe auch mein Leben reich gemacht hat.
Aber ich möchte auch respektvoll und sachlich zum Ausdruck bringen, was ich als schädlich erlebe, wo ich auf Gesetzlichkeit stoße, auf Enge, auf Unbarmherzigkeit und Lieblosigkeit, wo Menschen durch den Glauben nicht frei, sondern krank werden. - Wir wollen nicht bei einem ernüchternden und frustrierten Glauben stehen bleiben.
Keine Dekonstruktion ohne Rekonstruktion. Unsere Kritiker täuschen sich, wenn sie in uns die dekonstruierte Horde sehen, die vor allem weiß, was sie nicht mehr will, aber keine eigenen Überzeugungen und Neuentdeckungen formulieren kann. Wir akzeptieren unsere Frustration und Ernüchterung als wichtige Phase auf unserem Weg, aber nicht als Endstation. Wir machen uns auf die Suche, überwinden das Schmerzhafte, und entwickeln den Glauben so weiter, dass wir wieder Leidenschaft und Begeisterung dafür empfinden und das auch ausstrahlen. Ich bleibe beim Bild des Umzugs: wir nehmen mit was wertvoll ist, wir entsorgen was krank macht und wir lassen uns auf Neuentdeckungen ein. - Wir pflegen unsere Liebe zur Bibel
Progressiven Christen wird ständig unterstellt, dass sie mit der Bibel abrechnen und sich über die Bibel hinwegsetzen. Aber wir lassen uns diese Bibel nicht wegnehmen. Wir mögen sie anders lesen: mit einer anderen Hermeneutik und einem anderen Inspirationsverständnis. Aber die Bibel gehört nicht nur denen, die eine konservative Hermeneutik pflegen. Wir pflegen unsere Liebe zur Bibel und bringen sie mit unserer Lesart zu neuem Glanz, zu neuer Bedeutung und zu neuer Relevanz. Es wird uns dabei weniger darum gehen, ob alles in der Bibel wortwörtlich wahr ist und mehr darum, welche ungeheuren göttlichen Wahrheiten darin für uns bereit liegen. Diese wollen wir entdecken und unser ganzes Leben davon prägen lassen. - Wir wollen alles daransetzen, dass sich dieser progressive Glaube mit Kraft, Energie und Leidenschaft füllt.
Immer wieder möchte ich dieses Motto betonen: progressiv glauben und geisterfüllt leben. Progressiver Glaube darf kein Gedankenspiel in unseren Hirnwindungen bleiben, das wenig Wirkung hat. Progressiver Glaube darf unser Leben bestimmen, zu einem blühenden und kraftvollen Leben führen. Progressiver Glaube ist kein kraftloser Glaube. Ich sehe in ihm ganz großes Potenzial, Zukunft zu gestalten, Reich Gottes zu bauen und die Welt zu verändern. Wenn uns Gott auf diesem Weg des Vorwärtsglaubens begleitet, dann ist uns auch sein Geist ganz nahe und er darf unser Leben und Glauben durchdringen und mit Kraft aus der Höhe erfüllen. Vor über 30 Jahren haben die Evangelikalen entdeckt, dass sie die Vollmacht des Geistes brauchen. Mein Pastorenfreund Rich Nathan schrieb damals ein Buch mit dem Titel: „empowered evangelicals“. Heute brauchen wir „empowered postevangelicals. - Es braucht progressive Gemeinschaften und Gemeinden
Progressive Christen müssen unter Beweis stellen, dass sie weiterhin zur Gemeinschaft fähig sind. Auch progressive Christen mit ihrer Freiheitsliebe, ihrer Eigenständigkeit, ihren gewachsenen Problemen mit Verbindlichkeit, ihrer Selbstverantwortlichkeit, ihrer Verletztheit können eine Gemeinschaft formieren. Wir sind nicht nur Individualisten und Einzelkämpfer, sondern haben das Zeug dazu eine liebevolle Gemeinschaft zu bilden. Trotz unserer neu gewonnenen Überzeugungen können wir mit Kompromissen leben und uns aufeinander einlassen. Auch Progressive können Gemeinde! Wenn es uns gelingt Gemeinden zu bauen, die nicht nur in ihrer Form, sondern auch in ihren Inhalten progressiv sind, wird das die Gemeindelandschaft positiv bereichern und die Relevanz von Kirche erhöhen. - Wir brauchen eine progressive Missionstheologie.
Auch wenn progressive Christen mit dem klassischen Mission- und Evangelisationsverständnis hadern, sollte es uns nicht passieren, dass wir unseren Sendungsauftrag in die Welt verlieren. Wir wollen uns nicht dem Vorwurf aussetzen, dass progressive Christen keinen Beitrag mehr für die Mission in dieser Welt leisten können. Aber unser Missionsverständnis wird breiter sein und vielleicht müssen wir auch neue Begriffe dafür finden. Es geht uns nicht allein um das Seelenheil und die Bekehrung, sondern wir wollen diese Welt zum Blühen bringen. Mission heißt für uns die Beteiligung an dem Guten, das Gott in dieser Welt bereits tut. Bei Mission geht es um das Königreich Gottes. Wir übernehmen Verantwortung für die Schöpfung, wollen Friedensstifter sein und zum Segen werden für alle Menschen. Ein progressives Missionsverständnis bewahrt uns davor im eigenen Saft zu schmoren und uns von den Realitäten, Sorgen und Bedürfnissen der Gesellschaft abzukoppeln.
Als Zwischenbilanz meiner eigenen Glaubensreise kann ich sagen, dass ich Jesus von Herzen liebe, die Bibel liebe, Glauben total spannend finde, eine aufregende Perspektive für die Zukunft habe. Gerne möchte ich die Menschen um mich herum zu dieser Reise einladen. Und ich habe diese Welt trotz aller Bosheit und Zerbrochenheit, die ich darin wahrnehme, lieb gewonnen. Nicht in dem Sinne, wie es den Progressiven immer wieder vorgeworfen wird: dass sie sich der Welt anpassen und von der Welt akzeptiert werden wollen. Mehr in dem Sinne, in dem die Bibel formuliert: »So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eigenen Sohn sandte…« Ich interessiere mich für diese Welt, für ihre Geschöpfe, ihre Überlegungen, ihre Sorgen, ihre Unkenntnis und oft auch Aversion dem Glauben gegenüber. Gott wird Teil dieser Welt, um ihr dadurch Heil zu vermitteln. Und in diesem Sinne möchte ich die Welt lieben und Teil von ihr sein, um Gottes Heil vermitteln zu können. Und weil ich nicht Gott bin auch oft genug um von ihr zu lernen.