Zum Glück war Petrus nicht bibeltreu!
In den vergangenen Wochen habe ich wieder einmal die Apostelgeschichte durchgearbeitet. Dabei bin ich bei einer Geschichte im zehnten Kapitel hängen geblieben. Es geht bei dieser Geschichte um die Begegnung zwischen Petrus und dem römischen Offizier Kornelius. Diese Geschichte ist wesentlich, sogar entscheidend und konstituierend für den weiteren Verlauf des Christentums.
Zum ersten Mal sucht einer der Apostel bewusst einen Heiden auf, geht in sein Haus, verkündigt das Evangelium, tauft ihn und verbringt einige Tage in seinem Zuhause. Ab hier ist klar: das Evangelium gehört auch den Nichtjuden, den Heiden, und auch sie können zu Gottes Volk gehören und den HEILIGEN Geist empfangen, also einen Geist der zutiefst heilig ist.
Diese Geschichte stieß die Tür auf für die Verkündigung unter den Heiden und für den Beginn eines neuen Gottesvolkes, das nun aus jüdischen und heidnischen Christusnachfolgern besteht. Infolge dieser Geschichte sind auch wir hier im Westen in der Lage, an Christus zu glauben und ein Teil von Gottes Familie zu sein.
Aber das Ganze konnte sich nur so entwickeln, weil Petrus zum Glück nicht im fundamental-evangelikalen Sinne bibeltreu war!
Petrus befindet sich gerade bei einem christusgläubigen Juden (Simon) in der Stadt Joppe. Während er sich ein wenig auf der Dachterrasse ausruht und auf die Zubereitung des Essens wartet, hat er dort eine Vision:
Kurz darauf bekam er Hunger und wollte essen. Während ihm etwas zubereitet wurde, hatte er eine Vision. Er sah den Himmel offen und etwas wie ein großes leinenes Tuch auf die Erde herabkommen. Es wurde an vier Zipfeln gehalten, und in ihm befanden sich alle möglichen Arten von Vierfüßlern, Kriechtieren und Vögeln. Eine Stimme sagte: „Los, Petrus, schlachte und iss!“ „Auf keinen Fall, Herr!“, sagte Petrus. „In meinem ganzen Leben habe ich noch niemals etwas Verbotenes oder Unreines gegessen!“ Doch die Stimme forderte ihn ein zweites Mal heraus: „Was Gott für rein erklärt hat, halte du nicht für unrein.“ Das alles geschah drei Mal, dann wurde das Tuch wieder in den Himmel hinaufgezogen. (Apostelgeschichte 10,10-16)

Petrus erlebt eine Vision, macht also eine ziemlich subjektive Erfahrung. Und in dieser Vision wird er von einer Stimme aufgefordert Tiere zu schlachten und zu essen, die für Juden unrein und damit verboten waren. Petrus wehrt sich verständlicherweise dagegen, da er sich bisher immer an die jüdischen Speisevorschriften gehalten und noch nie derartige Tiere geschlachtet oder gegessen hat. Aber die Stimme ist hartnäckig und erklärt das Essen als von Gott her legitimiert. Zudem wiederholt sich das Ganze dreimal. Im Judentum ist eine derartige Wiederholung ein klares Zeichen dafür, dass diese Vision und ihre Botschaft eine hohe Dringlichkeit hat (vgl. Gen.41,32).
In dieser Vision wird etwas bis dahin Unheiliges und Unreines von Gott gereinigt und geheiligt. Schon allein das ist unerhört! Sind diese Kriechtiere jetzt rein oder unrein? Kann sich Gott nicht entscheiden? Und zum anderen findet dann eine Übertragung dieser Vision auf ein viel größeres Thema statt: nicht nur bisher verbotene Tiere und Handlungen (schlachten und essen) werden legitimiert, sondern auch Menschen werden rein gesprochen, die bisher als kategorisch unrein und zu meiden galten.
Wäre Petrus ein evangelikal-bibeltreuer Christ gewesen, wäre die ganze Geschichte wahrscheinlich folgendermaßen abgelaufen:
In der Vision wird Petrus von dieser Stimme aufgefordert folgende Tiere zu schlachten und zu essen: „alle möglichen Arten von Vierfüßlern, Kriechtieren und Vögeln.“
Zunächst einmal hätte Petrus dieser Vision misstraut, denn alle Visionen oder Offenbarungen haben nicht denselben Charakter wie die Schrift. Visionen sind subjektiv, allein die Schrift ist die Wahrheit.
Und er hätte den Wahrheitsgehalt und damit den Ursprung dieser Vision anhand der Schrift geprüft – ganz im Sinne von »prüfet alles, dass Gute behaltet« Und die Schrift war in dieser Frage eindeutig. Unzählige Stellen im Alten Testament klären unmissverständlich, welche Tiere von Gott als rein und damit essbar und welche als unrein und damit ungenießbar bezeichnet werden.
Hier eine kleine Auswahl aus Levitikus, deren sich Petrus garantiert bewusst war:
11,20 Alle geflügelten Insekten, die wie Vierfüßer laufen, sollt ihr verabscheuen,
11,23 Aber alles geflügelte Kleingetier, das vier Füße hat, soll euch etwas Abscheuliches sein.
11,41 Und alles Kleingetier, das auf der Erde wimmelt, ist etwas Abscheuliches. Es darf nicht gegessen werden.
11,42 Alles, was auf dem Bauch kriecht, und alles, was auf vier oder mehr Füßen läuft, alles Kleingetier, das auf der Erde wimmelt, dürft ihr nicht essen. Es ist etwas Abscheuliches.
11,43 Macht euch durch das wimmelnde Kleingetier nicht selbst zu etwas Abscheulichem. Verunreinigt euch nicht an ihnen und lasst euch nicht verunreinigen durch sie!
11,44 Denn ich bin Jahwe, euer Gott. Heiligt euch! Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig! Verunreinigt euch nicht selbst durch all das Kleingetier, das sich auf der Erde regt.
20,25 Ihr sollt zwischen reinen und unreinen Tieren unterscheiden, zwischen unreinen und reinen Vögeln, und euch selbst nicht zum Abscheu machen durch das Vieh, die Vögel und das, was sich auf dem Erdboden regt, was von mir für unrein erklärt wurde.
Spätestens nach der Reflexion dieser Bibelstellen wäre für Petrus klar gewesen, dass diese Vision und diese Stimme nicht von Gott sein können. Niemals würde Gott etwas sagen, dass nicht der Heiligen Schrift entspricht.
Es ist doch das klare Erkennungszeichen einer falschen Offenbarung und einer falschen Lehre, wenn sie dem ausdrücklich offenbarten Willen Gottes widerspricht.
Verführung lässt sich doch daran erkennen, dass irgendeine Stimme behauptet, die Stimme Gottes zu sein, während sie gleichzeitig das Gegenteil von dem sagt, was Gott in der Heiligen Schrift geoffenbart hat.
Wenn Gott in Levitikus und anderen Texten sagt, dass bestimmte Tiere keinesfalls gegessen werden sollen, sondern deren Verzehr gerade jene Heiligkeit zerstören würde, die Gott von seinem Volk fordert, dann ist doch eindeutig, welchem Geist diese Vision entsprungen ist. Hinter dieser Vision steckt keinesfalls Gott, der Urheber der Heiligen Schrift, sondern ein Geist der Verführung, ja Satan selbst. Ende der Diskussion und Ende des Nachdenkens!
Das ist die Logik evangelikaler Bibeltreue und evangelikaler Hermeneutik, wie sie bis heute gelehrt und verkündigt wird. Da ist die Bibel ein flaches Buch und das Prüfen anhand der Schrift gleicht eher einem konkordanten Vorgehen, wo die Übereinstimmung mit Stellen gesucht wird, in dem ähnliche oder gleiche Begriffe und Inhalte auftauchen.
Für Petrus hätte das Nachdenken über diese Vision hier ihren klaren Abschluss finden müssen. Die Antwort ist und bleibt »Nein! Das esse ich nicht!«
Aber die Hermeneutik des Petrus ist eine andere. Er lebt vielmehr nach dem Geist der Schrift und nicht nach ihren Buchstaben. Dieses Prinzip, das Petrus hier bereits anwendet, wird von Paulus später explizit formuliert (2.Kor.3,6). Trotz ihres offensichtlich unbiblischen Charakters nimmt Petrus diese Vision ernst, kann er darüber nachdenken und der Idee dieser Vision nachspüren. (V.19 Petrus grübelte noch über den Sinn seiner Vision, da sagte ihm der Geist Gottes: »Drei Männer wollen zu dir!)
Im Nachdenken, im Grübeln und im Hören auf den Geist kann Petrus auf einmal verstehen, dass es nicht nur um die Reinigung bis dahin unreiner Tiere durch Gott geht, sondern weit darüber hinaus um die Integration von nichtjüdischen Menschen ins Volk Gottes.
Diese Übertragung, diese Weiterentwicklung, dieses Verständnis für den Geist der Schrift kann nur gelingen, wenn man nicht durch eine fundamentalistisches Bibelverständnis von vorneherein an solch wichtigen Überlegungen und Grübeleien gehindert wird.
Wir alle können heute als Menschen ohne jüdischen Hintergrund an Jesus glauben, weil Petrus damals eine Bibelhaltung an den Tag gelegt hat, die es ihm erlaubt hat über eine Vision nachzudenken, die in offensichtlichem Widerspruch zur biblischen Offenbarung stand. Ich behaupte, dass es mit einem fundamentalistischen Bibelverständnis nicht gelungen wäre die mutigen Schritte zu gehen, die Petrus damals gegangen ist. Heutige sog. „Bibeltreue“ hätten sich reflexartig am unbiblischen Inhalt der Vision aufgehängt und wären nicht in der Lage gewesen weiter zu denken, weiter zu grübeln, die große Absicht Gottes dahinter und die entscheidende Weiterentwicklung der Offenbarung Gottes zu erkennen.
Heute sind es andere Themen, bei denen das fundamentalistischen Bibelverständnis den Denkriegel vorschiebt – Hauptsache bibeltreu! Man ist zwar dem Buchstaben treu, aber die Absicht der Liebe Gottes, der Integration und Reinigungsabsicht bisher unreiner Menschen, Handlungen oder Dinge wird wieder einmal verpasst.
Zum Glück war Petrus nicht bibeltreu!